Zum Lesespaziergang in Breuna, am 06. Mai 2023 habe ich folgenden Text vorgetragen. Da ich diesen an 2 Orten des Ecopfades vorlas, ist dieser entsprechend in 2 Teile aufgeteilt.
Teil 1:
1945 hatte ein Albtraum ein Ende, doch ich wurde in einen anderen hineingeboren. In eine Diktatur, die sich aus den Trümmern des 2. Weltkrieges erhob. Ich wurde hinter dem eisernen Vorhang geboren und habe 11 Jahre diese Zeit miterlebt. Immer wieder drohten der Westen und Osten mit Krieg. Es war ein kalter Krieg. Die Siegesmächte des einstigen Krieges stritten um die Herrschaft. Sie stritten um das gefallene Europa, das getrennt wurde.
Wir durften damals nicht raus. Ich habe mich immer gefragt, wie es dort im Westen aussieht. Was da anders ist. Ich wusste von meiner Oma, dass sie in den Westen durften. Warum ich aber nicht? Warum meine Eltern nicht? Ich habe damals vieles nicht verstanden und doch mitgemacht. Ich habe es nicht verstanden, dass ich immer zum Mai Umzug mitdemonstrieren musste. „Tag der Arbeit, da musst du mit“, sagte meine Lehrerin. Ja, die Lehrer. Ich mochte die Schule nicht. Es war so streng, fest orientiert.
Irgendwann sollten wir in der Schule unser Lieblingsbuch vorstellen. Eine meiner Mitschülerinnen wollte dazu aus Heidi vorlesen. Es war verboten. Es kam vom imperialistischen Feind. Sogar ihre Eltern mussten in der Schule antanzen, weil es nicht erlaubt war, ein Buch zu lesen, dass falsche Lehren, und Ansichten der Welt vermittelte. Heidi – ein Buch über ein Mädchen, das auf einer Alm mit ihrem Opa lebte. Gemeinsam mit ein paar Ziegen und ihrem Freund dem Ziegenpeter. Trotzdem sangen wir in der 3. Klasse, wenn wir zum Schwimmunterricht fuhren, immer genau dieses Lied im Bus.
Seit der 3. Klasse hatten meine Eltern arge Probleme mich in die Schule zu bringen. In der 4. war es so, dass es sogar Hausbesuche gab. Ich verstand nicht, wieso die Leute wegen Bananen anstanden. Einmal lachten meine Eltern. „Im Konsum gibt’s Mondos.“ Ich wusste nicht, was das ist. Überzieher?
Trotzdem ging es uns gut. Wir hatten einen Farbfernseher. 6.000 Mark kostete der damals. Die Wasserversorgung kam aus dem Brunnen am Haus. Mehrmals musste mein Vater dort hinein klettern um ihn tiefer zu machen. Im Sommer war dieser regelmäßig versiegt. Da gab es meist ein großes Wasserfass von der Gemeinde.
Als ich neun war, im Herbst 1987 veränderte ein Brief das Leben meiner ganzen Familie. Er kam aus Bielefeld. Meine Mutter sah sich die Adresse mehrmals an, zuckte mit den Schultern. „Warum ein Brief aus Bielefeld?“, fragte sie sich. Sie öffnete ihn, dann setzte sie sich. Ihre Augen wurden glasig. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Ich fragte aufgeregt, was los sei.
»Die sind abgehauen«, sprach sie mit Tränen, die sie versuchte, sich von der Wange abzuwischen.
»Wer?«, fragte mein Vater nervös. Er trampelte auf der Stelle in Omas Küche hin und her.
»Meine Eltern. Die sind dortgeblieben. Sie kommen nicht wieder.« Ich war es, der sich freute. Endlich Westpakete. Das war meine Reaktion. Aber, meine Eltern erklärten mir, dass wir sie nie wiedersehen werden. Vielleicht dürfen wir zu Omas oder Opas Beerdigung mal irgendwann.
Ein paar Wochen zuvor feierten wir noch Opas 60. Alle waren da. Meine Onkel und Tanten, meine Cousinen und Cousins. Wir wussten, dass sie nach der Feier ein paar Tage in den Westen wollten. Meine Mutter wusste nun, das war geplant. „Sie wollten noch mal alle sehen, bevor sie diesen schweren Schritt gehen.“
Den Schlüssel, sowie den guten RFT Kassetten-Rekorder hatte eine Nachbarin. Schnell sind meine Eltern in die Wohnung gefahren und haben wichtige Sachen herausgeholt. Der Staat durfte davon nichts mitbekommen. Alles darin war jetzt Eigentum der Deutschen Demokratischen Republik.
Trotzdem war der Schmerz groß. Nie wieder in Omas und Opas Garten. Nie wieder werde ich die Schwalbe hören, wenn sie zu uns kamen. Nie wieder werde ich dort übernachten können. Was blieb, waren Bilder, die sie uns schickten. Mit der Polaroid aufgenommen. Im Osten hatten wir nur die Schwarzweiß-Kamera. Auch wenn Nina Hagen, die aus meiner Heimatstadt Sangerhausen stammt, etwas vom Farbfilm sang. Eben diese Bilder blieben und Westpakete.
Es dauerte nicht lange, da standen ein paar Männer in der Türe. Wir sollten gehen, sagte mein Vater ernst. Ich hörte an der Wand zur Küche, wie diese Leute schimpften. „Aber sie müssen doch etwas gewusst haben! Frau Fricke“, sprach einer von ihnen. Meine Mutter hörte ich weinend „Nein“ sagen.
„Wir können sie wegen Mittäterschaft belangen. Sie können hohe Strafen bekommen. Ihre Kinder kommen dann ins Heim.“ Ich bekam Angst. In meinem Bauch drehte sich alles. Mir wurde schlecht. Mein Bruder nahm mich in den Arm. „Das wird nicht passieren“, sprach er, während ich weinte.
Sie diskutierten noch lange, bis sie gingen. Als ich fragte, wer das war, sagte meine Mutter kalt: „Die Stasi.“ Ich wusste nicht, was das ist, aber ich wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Ich fragte meine Mutter, ob wir ins Heim müssen, sie schüttelte den Kopf und nahm mich auf den Arm. „Das wird nicht passieren.“, sprach sie voller Hoffnung. Sie wusste es, denn es ist nie passiert.
So vergnügten wir uns mit Westpaketen. Recht schnell war es, dass wir mehr hatten als die anderen. Während die anderen die Meisterklasse Vollmilchtafel für 3,85 M hatten, hatten wir Milka. Während die anderen Rondo tranken, gabs bei uns Die Krönung von Jacobs. Um Sachen brauchten wir uns nicht zu kümmern. Die kamen aus dem Westen. Ich erfuhr, was ein Jogging-Anzug ist. Den trug ich Tag und Nacht, sogar in der Schule. Manche Pakete waren auf, als sie zu uns kamen. In einigen schienen Sachen zu fehlen. Die Stasi, lernte ich.
Wir konnten mit Oma telefonieren. Ihre Stimmen hören. Dazu mussten wir zu Nachbarn. In der DDR hatte nicht jeder ein Telefon. Oma hatte es sofort, als sie die Wohnung am Alten Dreisch 6b in D-4800 Bielefeld bezogen.
Die Hoffnung sie wieder zu sehen, wurde schwindend gering, als meine Mutter im März 1989 einen Ausreiseantrag stellte. Er wurde abgelehnt. Während im Westen die Europäische Gemeinschaft in dieser Zeit schon weit vorangeschritten war und Länder, wie Frankreich, Großbritannien oder Italien lange vorher Frieden schlossen und begannen, Europa zu vereinen. Ein Europa in friedlichem Interesse zu erschaffen, saß ich dort hinter dem eisernen Vorhang.
Teil 2:
Von einem Europa, dass sich im Frieden vereinen könnte, konnte ich hinter dem eisernen Vorhang nur träumen. War es doch so, dass 100 Kilometer westlich, die Welt zu enden schien.
Doch dann begann sich in der DDR etwas zu bewegen. Es sollte das Jahr sein, in dem Honecker seinen 40. Jahrestag der DDR feiern wollte. Doch die Menschen wollten nicht mitfeiern. Sie wollten plötzlich frei sein. Nicht mehr nur Bulgarien oder Tschechei, nicht mehr nur Club Cola, sondern Pepsi und regelmäßig Bananen.
Der Sportlehrer, der zum neuen Schuljahr im Herbst 1989 bei uns an der Schule anfing, ist über die Grenze nach Ungarn abgehauen.
Onkel Henry, Tante Claudia, meine Cousins Jacquelin und Thomas auch. Immer mehr flüchteten. In den Städten gingen die Menschen auf die Straßen. Sogar der von der Stasi, der im Frühjahr noch den Ausreiseantrag meiner Mutter ablehnte, haute ab. Meine Mutter sagt heute noch: „Das war einer der Ersten, die weg waren.“ Wir mussten warten, was passiert.
Es war der Morgen am 10. November. Das Radio war an. Radio und Fernseher liefen in diesen Tagen mehr als sonst. ARD und ZDF haben wir bekommen. Die Bilder liefen über den Fernseher. Im Radio hörten wir die Stimme von Schabowski:
„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“
Auf die Frage, ab wann das passiert, antwortete er: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“
Die Grenzen sind auf.
»Wir können Oma und Opa wiedersehen.« Wir jubelten. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen. Sie lachte. Wir tanzten und sprangen durch die ganze Wohnung. Wir sehen Oma und Opa doch wieder.
Doch dieses Wiedersehen dauerte noch ein paar Wochen. Wir schlachteten und nahmen Wurst und Fleisch mit. Auf der Fahrt war ich gespannt, wie es im Westen nun aussieht. Am Horizont suchte ich förmlich danach. Immer wieder fragten mein Bruder und ich, wann endlich Westen ist. Und dann, ein Huckel. BummBumm und wir waren da. An dem Straßenrand stand ein schwarz-rot-gelbes Hüttchen. Die Schranken waren ob. Ein Wachposten winkte mit dem Arm alle Autos nur noch durch. Der Grenzposten verschwand binnen Wochen.
Die Straßen waren plötzlich eben. Keine Huckel, kein Kopfsteinpflaster. Sie waren geteert. Die Häuser schöner. Auf den Autobahnen fuhren nicht nur Wartburg, Trabant oder Skoda. Da fuhr VW, BMW oder Opel. Und wir mit unserem Skoda waren hier Seltenheit. In Bielefeld war nun das große Wiedersehen. Endlich, nach mehr als 2 Jahren. Die meiste Zeit davon war ungewiss, ob wir uns je wiedersehen. Wir weinten vor Glück, als meine Oma aus dem Fenster schaute. So fuhren wir ab dann oft nach Bielefeld. In den Westen.
Die DDR fiel und mit ihr die Betriebe. Mein Vater ging auf Montage. Es war die Überlegung auch nach Bielefeld zu ziehen. Doch was machen wir mit unserer Oma, die noch im Haus lebt? Also war es nur ein Traum. Ich wäre gern aus der ehemaligen DDR weggegangen. Die Schule kam mir immer noch wie ein Knast vor, so, als wäre die Mauer nie gefallen. Als stünden die Grenzen noch. Mein Klassenlehrer sammelte damals Unterschriften, um an der Schule weiter zu unterrichten. Er war groß in der Partei gewesen, Funktionär in der FDJ. Als ich unterschrieb, wusste ich nicht, dass ich seinetwegen, seines sportlichen Enthusiasmus in der 10. Klasse, kurz vor den Prüfungen, einen Unfall haben werde, an dem ich noch heute, viele Jahre später damit zu kämpfen habe. In Bielefeld hatten wir Freunde. Spielten mit ihnen Fußball. Die Freundschaft ging so weit, dass Björn, einer dieser Freunde zu uns kam. Er durfte unsere Schule besuchen, war eine Woche da. Ich war zum Austausch in Elze. Auch da habe ich mich angefreundet. Tom hieß er. Die Schulen im Westen hatten etwas lockeres, die in der ehemaligen DDR war immer noch stocksteif. Ich hatte es immer noch schwer.
Aber auch meine Mutter wusste nicht, wie es weitergeht. Die Betriebe fielen wie Dominosteine. Sie war bei der Stadt, Reinigungskraft in einem Kindergarten. Viele wurden geschlossen, Personal abgebaut. Immer wieder war es die Angst meiner Mutter, dass sie dran ist. Sie war es nie. Ein Traum wurde mir damals verwehrt. Ich wäre damals schon gern Künstler geworden.
Meine Familie und ich, wir fuhren in die Niederlande, Österreich, Italien. Nicht mehr nur Tschechei oder Ungarn. Wir waren frei. Mit dem Fall der Mauer ist etwas passiert. Europa – der Gedanke eines vereinten Europas konnte nun real werden. So wie aus der Mark die D-Mark wurde, wurde 2002 aus der D-Mark der Euro. Immer mehr Länder wollen sich Europa anschließen. Diese Gemeinschaft genießen.
Meine Großeltern wurden immer älter. Bis Bielefeld waren es 300 km. So beschlossen sie, wieder zurückzukommen. Dort, von wo sie einst abhauten. Auch mein Onkel kam mit seiner Familie irgendwann wieder. Meine Cousine betreibt nun seit vielen Jahren erfolgreich ihren eigenen Friseurladen. Sie ist meist ausgebucht. Mein Lehrer ist nach Großbritannien gegangen. Meine Mutter und seine Mutter arbeiteten zusammen. Er unterrichtete dort Englisch und Deutsch. Heiratete eine Britin.
In dieser Zeit habe ich viel über Europa erfahren. Von den Kriegen, die hier geführt wurden. Bereits vor ca. 2500 Jahren waren es die Römer, die den Großteil Europas eroberten und vereinten. Doch dieses Reich fiel. Es gab den Bauernkrieg im 16. Jahrhundert. Das Panorama bei Bad Frankenhausen am Kyffhäuser erinnert an diese Schlacht. Blut soll in Flüssen den Berg herabgeflossen sein. Schon damals kämpften sie um Freiheit. Um die Abhängigkeit der Kirche.
Es folgte der 30-jährige Krieg, die französische Revolution und die Feldzüge von Napoleon Bonaparte, der ebenfalls Teile Europas eroberte.
Das dunkelste Zeitalter erlebte Europa aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg fand hier statt. Danach kam der Nationalsozialismus. Hitler begann Polen anzugreifen. Er wollte das sogenannte 3. Reich schaffen. Alle Länder erobern. Vereinen. Doch zu welchem Preis? Mit welchem Ziel? Europa wäre vereint gewesen, aber ebenso unterdrückt. Verfolgt und gemordet werde jeder, der sich diesem widersetzt und nicht dem Ideal angehört. Wie in der DDR.
Aber das ist vorbei. Es wird noch Herausforderungen geben. Aber Europa ist Eins geworden. Es ist friedlich eine Einheit geworden. Das haben zuvor viele mit Krieg und einem herrschsüchtigen Interesse probiert. Doch haben sich die Siegermächte des 2. Weltkrieges zusammengetan. Deutschland, das Land, von dem 2 Weltkriege ausgingen, ist diesem Prozess gefolgt, hat ihn sogar beschleunigt.
Doch, wie wird es mit dem vereinten Europa weitergehen? Ein Europa, das einst getrennt fiel, durch das sich ein Stacheldrahtzaun und Schussanlagen erstreckte. Wird es auch die Chance für diese Welt geben? Wird es irgendwann einen friedlichen Zusammenschluss aller Kontinente und Länder geben, um gemeinsam in eine friedliche Zukunft zu blicken? Durch eine friedliche Revolution konnte ein vereintes Europe erst richtig entstehen. Ist es nicht auch so möglich, eine ganze Welt friedlich zu vereinen und Waffen hinter sich zu lassen? Es wird sie irgendwann einmal geben, da bin ich mir ganz sicher: Die galaktische Sternzeit. Doch bis diese kommt, müssen wir lernen, als Welt zusammenzuhalten, und das Leben hier schätzen.
Wo einst eine Grenze beide Seiten teilte, gibt es nun das grüne Band. Auf 1.393 Kilometern wachsen mehr als 1.200 seltene und gefährdete Pflanzenarten. Eine tödliche Grenze, die zu leben erwachte. Ein Zeichen, dass aus etwas Schlimmen etwas Gutes werden kann. Genauso kann auch aus dieser Welt etwas Gutes werden. Europa hat es vorgemacht.
Schreibe einen Kommentar