Tag 1: Die Flucht

45 vom Blattfall IV-1407

Die Nacht war grauenvoll. Ich schlief unruhig. Im Traum hörte ich Volpuren schreien. Sie hielten ihre Tatzen in die Luft und rannten um ihr Leben. Plötzlich spürte ich einen Druck am Arm. Es knallte, während ich aufschreckte, riss ich die Augen auf. Papa hatte sich zu mir herunter gebückt und griff mit seiner Pfote fest um meinen Arm. Er sah mich ernst an, die Stirn mit dem zarten rosa Fell zog er kraus. Der ganze Raum flackerte rot, orange und gelb. Von draußen hörte ich Schreie und Bellen.
Papa zog fest am Arm und riss mich aus meinem Bett. »Los, wir müssen weg von hier!«, befahl er mir. Ich wusste nicht, was passiert ist, der Lärm war ohrenbetäubend. Da war ein Bellen, Knacken von Holz – ich konnte es gar nicht auseinanderhalten.
»Was ist los?«, fragte ich ihn. Schweigend und mit voller Kraft zog er mich aus dem Zimmer, sodass ich zu Boden fiel.
»Steh auf!«, befahl er mir. Ich saß wie versteinert da. Mir wurde schlecht, ich bekam Angst. Noch nie hatte mein Paupau mit mir so gesprochen. Was war geschehen?
Hinter ihm stand Mama. Sie hatte Tränen in den Augen. Auf dem Arm hielt sie meinen Bruder Asiel. Er weinte und boxte ihr auf die Brust: »Maumau, ich will nicht! Ich will wieder ins Bett!«
Mama schüttelte den Kopf. »Sei doch vernünftig, wir können hier nicht bleiben.«
Ich stand auf. Gemeinsam rannten wir aus unserem Bau, der sich unter der großen Eiche befand.

Draußen bot sich uns ein einziges Chaos. Die Bäume, unter denen sich die Bauten befanden, standen in Flammen. Volpuren rannten wie aufgescheuchte Hühner in alle Richtungen und schrien. Pfeile pfiffen durch die Luft.

»Pass auf!«, rief Mama, die hinter uns stand. Papa konnte sich gerade noch ducken, als eine heiße, rotflackernde Kugel an uns vorbeizischte und in das Fenster meines Zimmers einschlug. Die Scheibe splitterte.
Unsere Schritte schmatzten im Matsch, der sich mit dunkelroter Flüssigkeit verband. Wir rannten durch die Straßen, vorbei an Volpuren, die mit ihren Schnauzen im Dreck lagen. Bei manchen fehlten die Arme, bei anderen die Beine. Aus den Wunden spritzte Blut heraus. Übelkeit stieg in meinem Magen auf. Ich musste würgen.
Ich sah zu einem brennenden Baum, dahinter stand eine seltsame Kreatur. Die Knie waren eingeknickt, die Arme pendelten an ihrem Körper hin und her. Sie hielt ihre Schnauze in die Luft, als würde sie etwas wittern. Er heulte, um ihn versammelten sich weitere Gestalten. Einer der Wölfe schleuderte eine Feuerkugel in einen Bau, ein anderer jagte einer Frau hinterher, die ein Kind vor ihrer Brust festhielt. Beide schrien um ihr Leben.
Plötzlich zischte etwas durch die Luft. Der Wolf fasste sich mit seiner Pranke an den Hals. Verzweifelt schaute er sich um, bevor er zur Seite wegkippte. Ich sah in die Richtung, aus der der Pfeil kam. Onkel Owe stand mit einem Blasrohr in der Hand an einem der hinteren Bäume und grinste mir zu.
»Onkel Owe!«, rief ich.
»Ivona! Renke! Wartet auf mich!« Er kam auf uns zu gerannt.
»Los, lauf!«
Er lief schneller. Mama und Papa sahen sich nervös um. Um uns herum rannten Wölfe, sie schienen uns aber nicht zu beachten.
»Komm!«, befahl ich ihm.
Er war nur noch ein paar Schritte von uns entfernt. Dann sprang eines dieser Viecher aus dem Gebüsch. Er zerrte Onkel Owe zu Boden und biss ihn in den Hals. Er riss Sehnen wie Grashalme daraus. An seinen Zähnen troff Blut herunter. Er schaute mit seinen tiefschwarzen Augen nach uns und knurrte. Er ließ von Onkel Owe ab, der regungslos im Dreck lag und rannte auf uns zu.
»Papa, er verfolgt uns!«, rief ich.
Papa griff nach mir und schwenkte mich auf seine Schultern.
Wir rannten so schnell, wir konnten. Ich krallte mich in seinem Fell fest. Von dem Wippen und der Angst, dass er uns auch töten könnte. Er fletschte mit den Zähnen und knurrte, während er auf uns zu stürmte.
Er kam näher, riss die Hände vor sich, um nach Papa zu greifen. Ich drückte jetzt meinen Kopf ganz nah an Papas Brust und kniff die Augen zu. Dann hörte ich zischen in der Luft.
Da machte ich die Augen wieder auf, sah vorsichtig über Papas Schulter. Der Wolf lag am Boden. Pfeile ragten aus ihm heraus, wie Nadeln aus einem Kissen. Wir rannten weiter. Die Flammen, die zwischen den Bäumen loderten, wurden immer kleiner. Sie flackerten hell an den Stämmen der uralten Eichen und Buchen.
Nach einer Weile blieben wir stehen. Papa strich mir mit seiner Tatze über den Rücken und sah mich mit traurigen Augen und der gerunzelten Stirn an. »Alles wird gut«, flüsterte er. Dann sah ich die Tränen auf seine Schnauze tropfen. Er umarmte mich, so fest, dass ich nur schlecht Luft bekam. Mama kam zu uns, ihre Schritte knisterten im Laub. Asiel lag mit dem Kopf an ihrer Brust, die Augen hatte er geschlossen. War mein kleiner Bruder eingeschlafen?
Wir hörten Schreie. Wir schauten in die Richtung unseres Stammes. Papa nickte Mama zu. »Kommt!«, sagte er zu uns. Wir rannten tiefer in den Wald hinein. Ich versuchte, meine Augen zu schließen, doch da taten sich die Bilder von dem lodernden Feuer auf, von den Wegen, auf denen sich der Matsch mit dem Blut verband. Von Onkel Owe und von den Wölfen, die uns überfielen und nun jagten. Ich fand keine Ruhe. Asiel war aufgewacht, er weinte an Mamas Brust. Wir blieben stehen und versuchten, ihn zu beruhigen.
»Hab keine Angst«, flüsterte Papa mir ins Ohr. »Es wird alles wieder gut.« Aber sein Blick verriet mir, dass es das nicht wird. Erst jetzt begriff ich, dass es unser Zuhause nicht mehr gab. Wir wurden immer noch verfolgt. Da merkte ich dieses Brennen in meinem Magen. Ich hatte Angst. Ich hatte große Angst, doch will ich nicht, dass sie es mir anmerken. Ich bin ja schließlich groß.
Im Dunkeln sah ich, dass Mama zu mir überschaute, während sie mit Asiel auf dem Arm wippte. Ich glaubte, ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. Das blaue Licht von Mes Lid spiegelte sich in ihren Augen. Ich sah zum Himmel auf. Ein paar Sterne funkelten durch das Blätterdach des Waldes. Eine sanfte Brise strich mir über mein Fell. Ich atmete tief ein und genoss diese Stille. Dann blitzte am Himmel eine Sternschnuppe kurz auf, die rot verglühte. Ich wünschte mir, dass das alles ein Traum war und wir wieder nach Hause könnten.

Nach einer Weile liefen wir ein Stück tiefer in den Wald hinein. Die Dunkelheit wirkte friedlich. Sonst hatte ich immer Angst im Dunkeln. Doch jetzt war ich irgendwie froh, dass es finster war. Noch immer begriff ich nicht, was da geschah. Papa sah zurück. Sein Fell fühlte sich feucht an. Mama kam zu uns und fasste ihn an den Arm. Asiel atmete leise. Er war wahrscheinlich wieder eingeschlafen.
Papa sah Mama an. »Wir müssen weiter.« Sie nickte. Durch die Schritte im Laub und das leichte Wippen an seiner Brust wurde ich müde und schlief ein.

Schreie rissen mich aus dem Schlaf. Ich sah in die Dunkelheit, konnte aber außer den dicken Stämmen nichts erkennen. Da bemerkte ich, dass der Boden unter mir weich war. Ich lehnte an einem Baum.

Mama und Papa lagen an dem Stamm einer Eiche neben mir. Papas Schnarchen und das Zwitschern einiger Vögel, waren die einzigen Geräusche. Ich atmete schwer, spürte, dass es in meinem Magen flau war.
Ich kroch zu Mama und kuschelte mich an sie. Vielleicht hatte ich nur geträumt.


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